Auch wenn ich wusste, dass dieser Tag kommen wird, ist er scheiße. Am 4. Dezember wärst Du 96 geworden und hast dir diese letzte unbeschwerte Reise mehr als verdient. Für mich warst Du nicht nur eine beeindruckende Frau, sondern auch die einzige Oma, die ich hatte. Du hast nicht nur deine sechs jüngeren Geschwister durch den Krieg gebracht, sondern auch deinen vier Söhnen und fünf Enkeln ein Zuhause geschaffen.
Ich hatte das Glück einer von ihnen zu sein. Statt Schlüsselkind wurde ich Omakind, wenn meine Eltern arbeiten waren. Unzählige Schulferien durfte ich mit meiner Schwester bei Dir und Opa verbringen. Du warst es, die mir das Schwimmen noch vor der Schule beibrachte, in Eurem Haus machte ich meine ersten Gehversuche, Du brachtest mir das Canasta, Schach und unzählige weitere Gesellschaftsspiele bei.
Auch wenn ich bis heute nicht weiß, ob ich dich wirklich ein einziges Mal im Schach geschlagen hätte, wenn Du es nicht gewollt hättest.
Später brachtest Du mir, auch wenn ich es nicht gerne zugebe, das Kochen bei und zeigtest mir und meiner Schwester das Engadin und brachtest uns dort deine Liebe zu den Bergen näher. Unzählige Schulferien verbrachten wir mit Dir in der Schweiz. Wir schwammen in Bergseen und selbst, wenn uns 67 Lebensjahre trennten, gingst Du im Sommer mit uns Wandern und im Winter mit uns Skifahren. Mit Dir habe ich meinen ersten Kräuterlikör getrunken, oder auf der Terrasse unter freiem Himmel geschlafen. Oft gingen wir abends mit Bauchschmerzen vom Lachen ins Bett. Du brachtest Dir selbst noch im hohen Alter Italienisch und Englisch mithilfe von Sprachsoftware auf deinen Computer bei. Und standest sogar noch auf dem World Trade Center.
Für uns warst Du immer auf ICQ und Skype erreichbar und hast zuletzt via Tablet und Whatsapp mit uns kommunizierst. Wenn ich heute mal vor einem elektrischen Gerät hänge und mit meinen 28 Jahren verzweifel’, denke ich an dich. Und bin ein bisschen stolz.
Du konntest „neins“ nur schwer akzeptieren. Hast versucht deine Neugier für Neues zu behalten und auch wenn Du nichts von dem verstehst, was ich in meinem Leben tue, warst Du immer für mich da.
Mit deiner Digitalkamera habe ich vor vielen Jahren im Sommerurlaub sogar den ersten Kontakt zur digitalen Fotografie gehabt. Jeden Abend musstest Du dir meine schlechten Blumenfotos stundenlang anschauen. Gemeckert hast Du dabei aber nie. Zuletzt warst Du viel zu schnell und am Anfang noch ohne Helm mit deinem elektrischen Fahrrad unterwegs. Gingst einkaufen, fuhrst zum Arzt oder an den Fühlinger See. Irgendwie wolltest Du wohl selber nicht war haben, dass auch Du älter wirst. Lieber hast Du stolz von deinen letzten Fahrradausflügen erzählt, die über die Zeit weniger und weniger wurden.
Umso schwerer fiel es mir, deinen zwar kurzen, aber nicht deinem Leben würdigen Leidensweg in den letzten Wochen zu akzeptieren. Auch wenn Du bis zuletzt deinen trockenen Humor nicht verloren hast, hattest Du dir schon länger das Ende gewünscht. Wer soll Dir das auch nach 95 Lebensjahren verübeln?
Ich hoffe Du bist deinen geliebten Bergen jetzt noch ein bisschen näher als früher! Das ist der aktuell einzige Trost.
Danke für alles, Oma! Und Grüß Opa, wenn Du ihn siehst!
xoxo,
Ben
* 4. Dezember 1925 † 17. Oktober 2019
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